von Markus Stuhr
erschienen in Flug u Reisemed 2018; 25(03): 129-132
Der Lawinenlagebericht des Lawinenwarndienstes Tirol weist für die Region „Tuxer Alpen am 24.01.2018 nachmittags eine verbreitet erhebliche Lawinengefahr (somit Stufe 3) aus. Insgesamt erleben die Menschen in den Alpen einen der schneereichsten Winter der letzten 20 Jahre mit der Folge, daß in den Tagen zuvor zahlreiche Alpentäler aufgrund einer großen bis sehr großen Lawinengefahr (Stufe 4 und 5) nicht erreichbar und hochfrequentierte Passübergänge wie z.B. der Fernpaß nicht befahrbar waren.
Die Rahmenbedingungen für einen Auffrischungslehrgang „Lawinenmedizin und Kälteschäden“ könnten also authentischer kaum sein, als sich die 20 Teilnehmerinnen und Teilnehmer in St. Jodok zur Begrüßung treffen. Konzipiert und geleitet von Dr. Uli Steiner und Dr. Wolfgang Schaffert findet dieser Lehrgang 2018 bereits zum achten Mal statt.
Die in St. Jodok versammelten medizinischen Fachdisziplinen hätten einer Klinik mittlerer Größe gut zu Gesicht gestanden: Anästhesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedizin, Unfallchirurgie, Innere Medizin/Kardiologie, Pädiatrie, Opthalmologie, Urologie, Psychiatrie, Psychotherapie, Allgemeinmedizin. Einmal mehr zeigt sich, dass die Alpinmedizin mit allen Subspezialitäten wie z.B. der Lawinenmedizin interdisziplinär von breitem Interesse ist. Abgesehen vom Fachlichen passte es auch menschlich in der bunt zusammengewürfelten Gruppe und allabendlich entwickelten sich interessante und unterhaltsame Gesprächsrunden.
In St. Jodok befindet man sich an einem für Skitouren idealen Ort. Je nach Wetter- und Lawinensituation geht es in eine der Himmelsrichtungen und eines der benachbarten Täler - inklusive der Möglichkeit, nach Südtirol zu fahren. Das Bergsteigerhotel „Das Lamm“ verfügt über mehrere gemütliche Zimmer und wird von den Wirtsleuten Petra und Patrick Zwölfer in bemerkenswert gastfreundlicher Weise geführt. Passend zum Titel Bergsteigerhotel lässt die Zusammenstellung des Speiseplans weder beim Frühstück noch beim Abendessen Wünsche offen.
Zufall oder nicht - in jedem Fall ein Erfolgsgarant ist die Mischung und vorhandene Doppelqualifikationen der Bergführer und Referenten. Neben den bereits erwähnten Kursleitern Ulli Steiner (Facharzt Anästhesie, staatlich geprüfter Berg- und Skiführer) und Wolfgang Schaffert (Facharzt Innere Medizin) gehörten dazu Jan Mersch (Dipl.-Psychologe, staatlich geprüfter Berg- und Skiführer, Mit-Entwickler der Snow-Card und jahrzehntelange Auseinandersetzung mit dem Thema Lawine), Pauli Trenkwalder (Dipl.-Psychologe, staatlich geprüfter Berg- und Skiführer, als Südtiroler ein Garant für „Geheimtipps“ südlich des Brenners) und Simon Rauch (Facharzt Innere Medizin, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Alpine Notfallmedizin der EURAC in Bozen), sowie Stefan Mertelseder und Stefan Hochstaffl vom Österreichischen Bergrettungsdienst mit ihren Lawinenhunden. In knapp 4 Tagen ein derartiges Programm auf die Beine zu stellen ist eine Sache, dafür auch noch excellente Ausbilder zu bekommen eine andere. Die Lerninhalte waren somit auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft und wurden sehr praxisnah vermittelt. Besondere Erwähnung verdienen die Vorträge von Jan Mersch und Pauli Trenkwalder - die Auseinandersetzung mit dem Thema Lawine findet eben nicht nur draußen im winterlichen Gebirge sondern v.a. auch in uns selber statt - „Lawinenpsychologie“ eben.
Wintersport und insbesondere Skitouren erfreuen sich steigender Beliebtheit. Viele Menschen suchen die Ruhe und Erholung im winterlichen Gebirge. In jeder Wintersaison kommt es aber auch zu Lawinenunfällen unterschiedlichen Schweregrades (Teilverschüttung, Ganzverschüttung), wobei in den europäischen und nordamerikanischen Gebirgen jährlich ca. 150 Lawinentote gezählt werden [1]. Die Suche von Verschütteten, die Rettung aus der Lawine und nachfolgende Behandlung sind durchaus komplexe Vorgänge, die einer guten Ausbildung und einem entsprechenden regelmäßigem Training bedürfen, damit der erwünschte Erfolg auch eintreten kann. Inzwischen liegt auch eine beachtliche Reihe wissenschaftlicher Erkenntnisse vor, die eine evidenzbasierte notfallmedizinische Therapie auf dem Lawinenkegel ermöglichen.
Ziel des Kurses war, die wesentlichen Eckpfeiler wie z.B. die Avalanche Victim Resuscitation Checklist [2] zu vermitteln und den Transfer in die Praxis herzustellen. Das ist den Referenten und Bergführern mit einem hohen persönlichen Aufwand ausgezeichnet gelungen. Entsprechend der Komplexität des Themas ist die Liste der Themen lang, so dass die Tage „voll“ waren. Mit einigem Augenzwinkern ergibt sich hier vielleicht der einzige Kritikpunkt der 4 Tage - zu wenig Zeit für die neu gebaute Sauna und den Outdoor-Whirlpool mit Blick ins Valsertal. Aber es war schließlich ein Fortbildungskurs und kein Urlaub. Gleich der erste Tag - der Praxistag - wartete mit einem Höhepunkt auf, der Demonstration eines Lawinenhundeeinsatzes, am Abend noch einmal vertieft durch zwei sehr authentische Vorträge der zwei Bergrettungsmänner. Dazu: Schneeprofil graben, Hangbeurteilung üben, Lawinenlagebericht interpretieren, Tourenplanung lernen.
Brodmann Maeder et al. haben 2017 [3] bereits den aktuellen Wissensstand und die aktuellen Therapieempfehlungen zu medizinischen Aspekten des Lawinenunfalls dargestellt. Viele wichtige Aspekte daraus sind in St. Jodok thematisiert und in der Praxis geübt worden. Für die Vermittlung der Theorie konnte u.a. mit Simon Rauch idealerweise ein profunder Kenner der Thematik und Co-Autor des o.g. Artikels [3] gewonnen werden.
Neben der Offenheit der Atemwege und dem Verletzungsgrad sind der Verschüttungsgrad und die Verschüttungsdauer ausschlaggebende Faktoren für die Überlebenswahrscheinlichkeit von Lawinenverschütteten [3]. Zu unterscheiden sind die Ganzverschüttung (Körper vollständig unter dem Schnee) und die Teilverschüttung (Kopf und Oberkörper frei). Von herausragender Bedeutung ist die sog. Kameradensuche, da die Überlebenswahrscheinlichkeit eines Lawinenverschütteten nach 15-20 min rasch fällt und nach 35 min Verschüttung nur noch bei 30% liegt [3,4,5]. Entsprechend wurde im Kurs sehr viel Wert auf die praktische Übung der Kameradenrettung gelegt. Diese setzt das Vorhandensein der klassischen Lawinensicherheitsausrüstung, bestehend aus Lawinenverschüttetensuchgerät (LVS-Gerät), Lawinensonde und Schneeschaufel voraus. An verschiedenen Stationen konnte die Suche mit dem LVS-Gerät unter Anleitung geübt werden. Bei der Signalsuche wird die Oberfläche quasi im Laufschritt nach sichtbaren Teilen (u.a. zur Detektion einer Teilverschüttung) und einem LVS-Signal abgesucht. Ist dieses erfolgreich muss in der dann folgenden Grob-Suche dem Richtungspfeil am LVS-Display gefolgt werden, um die dort mitlaufende Entfernungsangabe zu verfolgen, die bei korrekter Suche entsprechend sinken muss. Wichtig ist zudem, anderen Anwesenden regelmäßig laut und deutlich die auf dem Gerät angezeigten Werte mitzuteilen, damit ggf. weitere Maßnahmen vorbereitet werden können (z.B. Schaufel und Sonde vorbereiten). Ab einer Entfernung von 10 Metern wird die Suche deutlich langsamer und von Bedeutung ist, mit dem LVS auf die Schneeoberfläche hinunterzugehen. In der jetzt folgenden Feinsuche (auf den Knien) wird das LVS langsam und direkt an der Oberfläche bewegt, wobei es nicht mehr gedreht werden darf. Sobald der kleinste angezeigte Wert erreicht ist, wird von dort im 90°-Winkel einmal gekreuzt, um in dieser Richtung ebenfalls den niedrigsten Entfernungswert zu ermitteln und damit die bestmögliche Sondierungsposition festzulegen. Diese Stelle kann z.B. mit einem Handschuh markiert werden. Sodann erfolgt die Sondierung, um die Suche mit dem LVS-Gerät zu bestätigen. Alle hier kurz skizzierten Elemente konnten im Kurs ausgiebig beübt werden, der steigende Erfolg bestätigte den Wert der praktischen Übungen. Für detailliertere Informationen zum Thema Kameradenrettung sei auf die einschlägigen Medien insbesondere der Alpenvereine hingewiesen.
Nachdem der Verschüttete durch die LVS-Suche und/oder einen positiven Sondenkontakt gefunden wurde, ist der nächste entscheidende Schritt das korrekte Ausgraben des Verschütteten (Abb. 1), insbesondere um keine weiteren Schäden zu verursachen und eine potentielle Atemhöhle nicht zu zerstören. Ein auf dem Lawinenkegel befindlicher Notarzt sollte beim Ausgraben des Kopfes vor Ort beim Patienten sein, um Atemwege und Vitalfunktionen zu überprüfen (Abb. 2). Da hypothermiebedingt eine Bradykardie, Hypotension und Bradypnoe auftreten können, kommt der intensiven Suche (bis zu einer Minute) nach Vitalzeichen beim scheinbar leblosen hypothermen Patienten eine besondere Bedeutung zu [6]. Sobald möglich, ist die Überwachung mittels EKG-Monitoring anzustreben, um einen „rescue collapse“ (Herzrhythmusstörungen) rasch zu erkennen [6, 7]. Um diesen zu vermeiden, ist neben der Vermeidung von Bewegungen die horizontale Lagerung anzustreben. Neben den klinischen Zeichen einer Hypothermie ist insbesondere die Ermittlung der Körperkerntemperatur von Bedeutung, da diese Einfluss auf die weiteren Therapieentscheidungen (Triage) hat.
Tabelle 1: Einteilung der Hypothermie nach der adaptierten Schweizer Klassifizierung [8,9]
Stadium |
Klinische Symptome |
Körperkerntemperatur |
I |
Patient bewusstseinsklar, Muskelzittern |
35 – 32 °C |
II |
Bewusstsein beeinträchtigt, kein Muskelzittern |
32 – 28 °C |
III |
Patient bewusstlos, Vitalzeichen vorhanden |
28 – 24 °C |
IV |
Keine Vitalzeichen vorhanden |
< 24 °C |
V |
Tod durch irreversible Hypothermie |
< 13,7 °C |
Tabelle aus [10] mit freundlicher Genehmigung der Autoren
Je nach Befundlage und Gesamtsituation sind an dieser Stelle Therapieentscheidungen zu treffen. Sowohl die Suche, als auch das Ausgraben wurden in der großen Lawinenübung auf dem Nösslachjoch realitätsnah geübt. Dieser zweifellos als Höhepunkt zu bezeichnende Kursabschluss hat allen Beteiligten noch einmal die Dramatik einer Lawinenverschüttung noch einmal erlebbar gemacht. Mit sehr viel Vorbereitung waren insgesamt 5 verschiedene Szenarien „versteckt“. In sich spontan findenden Teams mussten die Teilnehmer alle Situationen lösen. Zur Erprobung hatten die Kursleiter die „Avalanche Victim Resuscitation Checklist“[MST1] [2] laminiert vorbereitet, so dass damit direkt am Ort des Verschütteten geübt werden konnte.
Mit dieser Checkliste ist es dem professionellen Rettungspersonal möglich, die Versorgung von Lawinenopfern am Unfallort fokussierter durchzuführen. Der Patient bekommt die Karte im Ernstfall umgehängt, so dass alle relevanten Informationen (Zeitfolge des Geschehens, klinische Daten, Beurteilung der Atemwege, Vorhandensein einer Atemhöhle, Körperkerntemperatur) dokumentiert und diese im weiterversorgenden Krankenhaus verfügbar sind [3].
In der Lawinenübung mussten neben dem Suchvorgang und dem korrekten Ausgraben die Checklisten komplett ausgefüllt und Entscheidungen getroffen werden, z.B. ob bei dem Patienten eine Reanimation begonnen und er in ein Zentrum mit der Möglichkeit zur extrakorporale Wiedererwärmung befördert werden musste.
Insgesamt haben alle praktischen Übungen in hohem Maße zur Bewusstseinsbildung zum Umgang mit der Lawinengefahr beigetragen. Begleitet von den Vorträgen der beiden Psychologen und der Lebens-, Lawinen- und Gebirgserfahrung von Wolfgang Schaffert eine runde Angelegenheit.
Vennspitze, Maurerspitze, Ultenspitze, Silberzack, Pfaffenberg, Sattelberg. Auch hier haben die Kursleiter und Bergführer ein für vier Tage mehr als beachtliches, kreatives und abwechslungsreiches Tourenprogramm zusammengestellt, das zudem noch die unterschiedlichen Könnensstufen der Teilnehmer berücksichtigt hat. In die Skitouren (Abb. 4) wurden die praktischen Elemente sehr geschickt integriert, so dass es bei der jeweils abschließenden Hütteneinkehr immer eine Menge nachzubereiten und zu bereden gab.
Dieser Lehrgang ist jedem, der sich intensiver mit den Themen „Akzidentelle Hypothermie und Lawinenmedizin“ befassen möchte, uneingeschränkt zu empfehlen. Die langjährige Erfahrung aller Beteiligten in den Bergen der Welt und damit auch in den Themen „Akzidentelle Hypothermie und Lawinenmedizin“ ist spürbar und tragendes Element in diesen 4 Tagen. Und auch wenn das Thema grundsätzlich ernst ist - der Spaßfaktor war sehr hoch und hat die mit Programm prall gefüllten Tage kurzweilig gemacht. Es soll Kolleginnen und Kollegen geben, die den Kurs bereits mehrmals mitgemacht haben - sehr nachvollziehbar.
[1] Brugger H, Durrer B, Adler-Kastner L et al. Field management of avalanche victims. Resuscitation 2001; 51: 7-15
[2] Kottmann A, Blancher M, Spichiger T et al. The Avalanche Victim Resuscitation Checklist, a new concept for the management of avalanche victims. Resuscitation 2015; 91: e7-e8
[3] Brodmann Maeder M, Rauch S, Strapazzon G et al. Medizinische Aspekte bei Lawinenunfällen – ein Update Flug u Reisemed 2017; 24: 221-225 DOI 10.1055/s-0043-118956
[4] Procter E, Strapazzon G, Dal Cappello T et al. Burial duration, depth and air pocket explain avalanche survival patterns in Austria and Switzerland. Resuscitation 2016; 105: 173–176
[5] Falk M, Brugger H, Adler-Kastner L. Avalanche survival chances. Nature 1994; 368: 21
[6] Pasquier M, Blancher M, Zen Ruffinen G et al. Does Rescue Collapse Mandate a Paradigm Shift in the Field Management of Avalanche Victims? High Alt Med Biol 2015; 16: 171–172
[7] Strapazzon G, Beikircher W, Procter E, Brugger H. Electrical heart activity recorded during prolonged avalanche burial. Circulation 2012; 125: 646–647
[8] Pasquier M, Zurron N, Weith B et al. Deep accidental hypothermia with core temperature below 24°c presenting with vital signs. High Alt Med Biol 2014; 15: 58 –63
[9] Durrer B, Brugger H, Syme D. The medical on-site treatment of hypothermia: ICARMECOM recommendation. High Alt Med Biol 2003; 4: 99–103
[10] Rauch S, Schenk K, Paal P et al. Lawinenmedizin – Update 2015: Neue Erkenntnisse verlangen neue Strategien. Notarzt 2015; 31(06): 301-305